Anosognosie: Wenn die eigenen Beeinträchtigungen nicht wahrgenommen werden

Gewisse Betroffene erkennen ihre kognitiven Defizite nicht. Damit können neuropsychologische Phänotypen nach der Covid-19 Infektion unterschieden werden.

Neben den bekannten Symptomen einer Covid-19 Erkrankung wie Fieber oder Halsschmerzen und Husten, können auch neuropsychologische Beschwerden in der akuten Phase bis einige Wochen nach der Infektion auftreten. Gewisse Personen sind sich dem Auftreten kognitiver Defizite gar nicht bewusst. Dieses Phänomen wird in der Neuropsychologie als Anosognosie bezeichnet und beschreibt das mangelnde Bewusstsein für kognitive Beeinträchtigung, wie z.B. Gedächtnisstörungen. Ob eine solche Anosognosie mit dem Schweregrad der akuten Erkrankung zusammenhängt und möglicherweise sogar als Unterscheidungsmerkmal für verschiedene Phänotypen von Long Covid dienen kann, untersuchte das Forschungsteam von Julie Péron an der Universität Genf.

Zu den Auswirkungen einer Covid-19 Infektion auf das zentrale Nervensystem (ZNS) zählen veränderter Metabolismus in verschiedenen Hirnbereichen und geringere Konnektivität in Signalwegen, welche überdurchschnittlich oft am Prozess der Selbstwahrnehmung beteiligt sind.

In der Studie wurden 102 Long-Covid Patientinnen und Patienten untersucht, welche 6 bis 8 Monate nach der Infektion immer noch Symptome hatten. Personen mit mittelschwerem und schwerem Verlauf der akuten Erkrankung waren deutlich öfter von einer Anosognosie in Form von Nichterkennen einer Gedächtnisschwäche betroffen. Sie wiesen häufiger neuropsychologische Defizite auf und schnitten in diversen Tests zu kognitiven und olfaktorischen Fähigkeiten schlechter ab im Vergleich zu Betroffenen ohne Anosognosie.

Ausserdem klagten die Menschen mit Anosognosie seltener über psychiatrische Symptome wie Depression, Angststörungen und Stress, oder andere Symptome wie Müdigkeit und Atembeschwerden. Anosognosie korrelierte deutlich mit einer höher empfundenen Lebensqualität. Durch bildgebende Verfahren fanden die Forschenden Hinweise auf reduzierte funktionale Konnektivität zwischen dem Hippocampus, dem ventralen präzentralen Kortex und dem ventromedialen präfrontalen Kortex, Subregionen des Gehirns, die in Selbstwahrnehmung und –kontrolle involviert sind.

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Anosognosie verbunden mit geringerer funktioneller Konnektivität im Gehirn ein Unterscheidungsmerkmal für verschiedene neuropsychologische Ausprägungen von Long Covid sein kann. Ausserdem deckte die Studie eine Dunkelziffer von Personen auf, die zwar Symptome haben aber aufgrund der Anosognosie sich deren Auftreten gar nicht bewusst sind. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, auch angeblich symptomfreie Patientinnen und Patienten in Studien zu Long Covid einzubeziehen. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift Brain Communications publiziert.

Weiterführende Forschung des Teams über die Folgen einer Covid-19 Erkrankung resultierte in einem kürzlich in der Fachzeitschrift Clinical Translational Neuroscience veröffentlichten Artikel. Die Prävalenz psychiatrischer Symptome war in allen drei Gruppen mit insgesamt 45 Testpersonen mit schwerem, moderatem oder leichtem Verlauf, relativ hoch. Die Gruppe mit schwerer Infektion schnitt bei Tests zum episodischen Langzeitgedächtnis schlechter ab und wies eine grössere Anosognosie auf. Personen mit moderatem Verlauf hatten eine schlechtere Emotionserkennung und anhaltende Geruchsstörung. Personen mit leichter Infektion waren gestresster, ängstlicher und depressiver. Die Studie stützt die Hypothese, dass SARS-CoV-2 das zentrale Nervensystem - insbesondere das limbische System - angreift, und die Vorstellung, dass es verschiedene neuropsychologische Phänotypen gibt.

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